Heinerli


by Hans Jorgens

I

Schon wieder zog sich Heiners Magen zusammen. Seit gut einer halben Stunde befand er sich in diesem wohlbekannten, aeusserst unangenehmen Zustand, der ihn stets daran erinnerte, dass etwas Schlimmes auf ihn zukommen wuerde. Der Elfjaehrige sass im Jungenzimmer auf dem alten Sofa und versuchte, sich auf seinen Karl-May-Roman zu konzentrieren, was ihm aber zusehends misslang. Nervoes zuppelte er mit den Fingern seiner linken Hand an dem Saum seiner kurzen Lederhose herum, ohne ueberhaupt zu registrieren, dass er das tat. Zum wiederholten Mal sah Heiner auf seine Armbanduhr. 18 Uhr 22. Gleich wuerde seine Mutter ihn rufen.

Es war ein ganz normaler Sonnabend im Juni 1960 und somit Badetag in der Familie Seipold. Die drei Kinder wurden ab 18 Uhr nacheinander in die Kueche gerufen, zogen sich aus, setzten sich in die mit ziemlich heissem Wasser gefuellte, gusseiserne Wanne und wurden nach allen Regeln der Kunst mit einer Wurzelholzbuerste abgeschrubbt. Danach erfolgte die Feinarbeit mit einem grossen Waschlappen, bis die Mutter befand, dass ihr Nachwuchs sauber genug fuer den weiteren Verlauf des Wochenendes war. Vater Seipold sass derweil in seinem Lieblingssessel in der guten Stube und hoerte Radio. Die Badeprozedur kuemmerte ihn eigentlich nur insofern, dass sie rechtzeitig zum Abendessen um 19 Uhr beendet sein musste.

Heiner blickte auf die Seite 352 des Romans ‚Der Schut, ohne wahrzunehmen, was dort geschrieben stand, denn mit seinen Gedanken war er ganz woanders. Morgens hatte er naemlich von seinem Klassenlehrer Herrn Bendow drei Schlaege mit dem Rohrstock auf den strammgezogenen Hosenboden bekommen, weil er waehrend einer Klassenarbeit trotz Ermahnung erneut mit seinem Banknachbarn und besten Freund Manfred Ribnick getuschelt hatte. Herr Bendow bestand waehrend seines Unterrichts auf konzentrierter Ruhe im Klassenraum, und zwar vor allem dann, wenn eine Arbeit geschrieben wurde. Durchbrach jemand wiederholt die verordnete Stille, rief er den ertappten Übeltaeter mit schneidender Stimme nach vorne, befahl ihm, sich zu buecken, und verpasste ihm mindestens zwei und hoechstens vier Hiebe mit seinem so genannten ‚Helferlein, einem duennen, biegsamen Rohrstock. Als Steigerung konnte es geschehen, dass er das Klassenarbeitsheft des Betroffenen wegen ‚Betrugsversuches einkassierte und ihm dafuer ein ‚Ungenuegend gab.

Letzteres war Heiner und Manfred zwar erspart geblieben, aber die Schlaege hatten sie gleichwohl einstecken muessen. Und da Herr Bendow einen geuebten Schwung hatte, waren die beiden Jungs nach jeweils drei schmerzhaften ‚Ziehern mit Traenen in den Augen zu ihren Plaetzen zurueckgeschlichen. Das anschliessende Sitzen auf den harten Holzstuehlen hatte den weiteren Verlauf des Morgens nicht gerade angenehmer gemacht. In der Pause gestand Manfred seinem Freund, dass er zu Hause noch einen Arschvoll obendrauf kriegen wuerde, wenn seine Eltern die Striemen zu sehen bekommen wuerden. Heiner hatte dazu beklommen geschwiegen.

18 Uhr 25. Er legte das Buch zur Seite, lauschte hinaus auf den Flur und schloss aus verschiedenen Geraeuschen, dass sein neunjaehriger Bruder Torsten die Badewanne verlassen hatte und selbige mit frischem Wasser aufgefuellt wurde. Nun musste es gleich so weit sein. Erneut dieses bloede Ziehen in der Magengegend. Eine Gaensehaut lief ueber Heiners Koerper und wurde auf seinen nackten Armen und Oberschenkeln sichtbar. Es schuettelte ihn geradezu durch. Auch die Striemen auf seinem Po meldeten sich wieder und gemahnten ihn noch zusaetzlich daran, was gleich geschehen wuerde.

„Heinerli, komm baden!

‚Heinerli. So nannte ihn die Mutter, seit er zurueckdenken konnte. Allerdings nur, wenn sie in der entsprechenden Stimmung war. Wenn er etwas ausgefressen hatte, rief sie ihn stets mit seinem vollen Namen: „Heiner Seipold, komm mal sofort her!. Betonung jeweils auf der ersten Silbe. Wenn das geschah, konnte es sehr ungemuetlich fuer ihn werden. Dann gabs was an die Backen oder manchmal auch einen Hinternvoll mit dem gefuerchteten Kochloeffel. An diesem Abend aber hatte sie gute Laune. Noch.

Heiner erhob sich vom Sofa, zog sich schnell bis auf die Unterwaesche aus und verliess das Zimmer. Als er in die grosse, warme Kueche kam, stand seine Mutter schon neben der Wanne bereit. Torsten sass im Schlafanzug auf einem Stuhl und foente sich die blonde Topfschnittfrisur. Seit einigen Wochen bestand er darauf, diese Verrichtung selbst zu erledigen, denn schliesslich war er nun schon ein grosser Junge.

II

„Na, du Racker? Waesche aus und ab in die Wanne, sagte Frau Seipold laechelnd zu ihrem Ältesten. Heiner zoegerte einen Augenblick. Nun wuerde es also ans Tageslicht kommen, dass er in der Schule bestraft worden war, denn die Striemen waren noch so frisch, dass man sie gar nicht uebersehen konnte. Erneut lief eine Gaensehaut ueber seinen schlanken Koerper.

„Nun mach schon, forderte ihn die Mutter auf. „Oder willst du heute in Unterwaesche baden?

Heiner brachte ein verkrampftes Laecheln zustande. „Ja, sagte er leise und korrigierte sich sofort: „Äh, nein.

„Na, da bin ich aber erleichtert, triezte ihn die Mutter mit sanfter Ironie.

Heiner zog sich zunaechst das Unterhemd ueber den Kopf und legte es beiseite. So gewann er drei, vier Sekunden. Gewoehnlich drehte er sich schamhaft von der Mutter weg, wenn er seine Unterhose auszog, doch wuerde dies natuerlich zur Folge haben, dass sie seine Rohrstockstriemen sofort sehen konnte. Was also tun? Verzweiflung durchstroemte ihn heiss. Innerlich zitterte er wie Espenlaub.

Er entschied sich also, den Slip diesmal mit dem Gesicht zur Mutter herunterzulassen. Sein Zoegern war offenbar gerade noch im Rahmen geblieben, so dass sie nichts bemerkt hatte. Als er schliesslich nackt, wie der Herrgott ihn geschaffen hatte, in die Wanne stieg, bemuehte er sich erneut, sein Hinterteil vor pruefenden Blicken verborgen zu halten.

„Andersherum!, befahl die Mutter, nun schon ein wenig unwillig. „So wie immer.

„Aber ..., begann er mit duennem Stimmchen, ohne den Satz fortzusetzen.

„Aber was??

Langsam aergerlich werdend, fasste sie Heiner kurzentschlossen am Arm und drehte seinen Koerper in die andere Richtung.

„Nun mach hier kein Theater, sagte sie leicht drohend und gab ihm dabei mit der flachen Hand eins auf den nackten Po. Nun musste sie es sehen! Schnell wollte Heiner sich in das heisse Wasser setzen, doch es war zu spaet.

„Ja, sag einmal, was ist das denn?, rief die Mutter mit einem Ausdruck des Erstaunens aus und beugte sich hinunter, um Heiners verstriemte Sitzflaeche naeher in Augenschein zu nehmen. Nun schossen ihm doch die Traenen in die Augen.

„Ich bin ... wir haben ..., stammelte er fast unhoerbar.

„Ihr habt was?, wollte die Mutter wissen, waehrend sie die Spuren der Zuechtigung eingehend begutachtete.

„Wir haben heute eine Erdkundearbeit geschrieben, und da .... und da .....

„Und da?!?

„Und da haben Manfred und ich miteinander gefluestert, und das hat Herr Bendow gehoert, und dann hat er uns nach vorne gerufen, und dann haben wir jeder was mit dem Stock gekriegt, sprudelte es aus Heiner hervor.

„Das sehe ich, sagte die Mutter.

„Aber geschummelt haben wir nicht!, behauptete der Junge mit weinerlicher Stimme.

„Sondern?

„Ich hatte eine Frage nicht richtig verstanden und hab Manfred gefragt, ob er sie versteht. Da hat uns Herr Bendow ermahnt. Und etwas spaeter wollte Manfred mir dann die Frage erklaeren, und dann .... und dann .....

„Nun dreh dich mal zu mir um, befahl ihm die Mutter. Er tat es. Sein Blick war auf den Fussboden gerichtet.

„Heiner, du weisst, was Vati zu diesem Thema gesagt hat. Wenn einer von euch in der Schule mit Schlaegen bestraft wird, dann kriegt er zu Hause noch einen Hinternvoll dazu!.

„Aber Muttiii !!, jaulte Heiner auf, „Bitte sag es ihm nicht !!

Frau Seipold schuettelte entschieden den Kopf. „Das kann ich nicht tun, sagte sie mit einem Anflug von Mitleid. „Wenn ers dann doch irgendwie erfaehrt, bin ich am Ende wieder die Dumme!.

„Mamiiii !!, heulte Heiner.

„Heiner, es geht nicht, sagte sie bestimmt. „Nun komm aus der Wanne, trockne dir erst mal die Fuesse ab und zieh deine Unterhose an. Ich geh zu Vati und erzaehle ihm die Geschichte so, wie ich sie von dir gehoert habe.

Waehrend sein Bruder ihn vom Stuhl aus anstarrte, tat Heiner, wie ihm befohlen worden war. Die Mutter verschwand in den Flur. Einige Sekunden spaeter erschien Angelika, die kleine Schwester der beiden Jungs, in der Tuer und fragte den schluchzenden Heiner, was denn mit ihm los sei.

„Heiner kriegt Haue von Vati, rief Torsten ihr zu, „weil er in der Schule was mit dem Stock bekommen hat!

„Au Weia, sagte die Sechsjaehrige erschrocken, blieb noch einen Augenblick in der Tueroeffnung stehen und zog sich dann diskret zurueck. Heiner stand da wie bestellt und nicht abgeholt. Ein halbes Dutzend Gedanken schoss ihm gleichzeitig durch den Kopf, sie fanden aber zu keinem Ziel, weil er sie nicht festhalten konnte. Obwohl es angenehm warm in der Kueche war, lief eine Gaensehaut nach der anderen ueber seinen gesamten Koerper. Er starrte auf die Tuer. Aus dem Wohnzimmer hoerte er leise und undeutlich, wie Mutti und Vati miteinander sprachen. Zwischendurch immer wieder sekundenlange Stille. Schreckliche Stille. Torsten sass immer noch wie festgenagelt auf seinem Platz und konnte den Blick nicht von seinem grossen Bruder wenden.

Dann auf einmal ruehrte sich etwas. Schritte im Flur. Heiner fuhr zusammen. Die Kuechentuer wurde geoeffnet. Hinter der Mutter erschien der Vater, riesengross und schweigend. Die Mutter konnte Heiner nicht in die Augen sehen.

„Vati, bitte nicht ....

Heiners Lippen formten diese Worte, doch sie drangen nicht aus seinem Mund hervor. Der Vater ging schnellen Schrittes zu dem Tisch mit der Schublade, in der die Bestecke lagen. Und die Kochloeffel. Es war der Tisch, an dem Torsten sass und immer noch den auf vollen Touren laufenden Foen in der Hand hielt.

„Raus!, fuhr Herr Seipold den Jungen an.

Torsten sprang auf, legte den Haartrockner zur Seite und verzog sich eilig aus der Kueche. Wachstischtuch zurueckgeklappt, Schublade auf, kurzes Wuehlen, und dann war da der grosse Kochloeffel in der Hand des Vaters. Kurzes Stutzen, Griff zum Foen, Foen ausgeschaltet.

„Komm her!

Heiners Traenen flossen. „Bitte Vati, keinen Hinternvoll ....

Der Vater legte den Kochloeffel auf den Tisch, brachte den Stuhl, auf dem eben noch Torsten gesessen hatte, in Position, ging dann zwei Schritte auf Heiner zu, packte ihn fest an einem Arm und zerrte ihn zu sich heran. Der Junge jaulte vor Schreck und Schmerz laut auf. Herr Seipold hatte keine Probleme, dem Elfjaehrigen die Unterhose bis auf die Fussknoechel herunterzuziehen und ihn baeuchlings ueber die Sitzflaeche des Stuhles zu zwingen. Und schon sauste die konkave Flaeche des Kochloeffels in schneller Folge auf die nackten Hinterbacken des heulenden Jungen herab.

KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!!

Heiner bruellte sich die Seele aus dem Leib. Er zappelte und versuchte, den Schlaegen zu entkommen, doch der feste Nackengriff des Vaters liess ihm keine Chance.

„Auuuuuaaaaa Auuuuuuuuuuuaaaaaaaaa Auuuuuuuuhuhuhuaaaaaa!!!

KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!!

Immer wieder traf das gemeine Holz die verstriemte Sitzflaeche des Jungen und die Oberschenkel. Der Vater verrichtete schweigend sein Werk. Nur einmal brachte er ein gepresstes „Dir wird ich helfen, mein Freundchen! hervor.

KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!!

Verzweifelt versuchte Heiner, sich von der Sitzflaeche des Stuhles auf den Fussboden rollen zu lassen, doch es nuetzte nichts, denn der Vater hielt ihn eisern fest.

KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!! KLATSCH!!

„Auuuuuuuuuuuaaaa Papa, bitte, bitte, Papa Auuauuauuuaaaaaaaaaaaaaaaaaa!!!

Irgendwann, nach scheinbar endloser Zeit, war es schliesslich doch vorbei. Herr Seipold liess von seinem Filius ab, legte den Kochloeffel in die Schublade zurueck und verliess die Kueche mit dem Satz: „Ab in die Wanne jetzt, und dann wird Abendbrot gegessen!

Heiner liess sich auf den Boden fallen, presste die Haende auf die knallroten Backen und heulte und heulte. Erst vor knapp drei Wochen hatte er zuletzt ueber dem Stuhl gelegen und den Hintern voll bekommen; damals allerdings von seiner Mutti. Das war bei weitem nicht so schlimm gewesen wie heute, hatte aber trotz einer schuetzenden Turnhose verdammt wehgetan. Ausserdem war es sowieso immer schrecklich, in so eine Situation zu geraten und mit Schlaegen bestraft zu werden.

Die Mutter hatte inzwischen die irgendwohin geflogene Unterhose aufgehoben, das erkaltete Wasser weggeschuettet und die Badewanne nachgefuellt. Dann beugte sie sich ueber ihren Sohn und troestete ihn ein wenig.

„Und nun komm baden, Heinerli, sagte sie. Sanft zog sie ihn hoch, und der Junge folgte. Als er sich in die Wanne setzte, heulte er noch einmal richtig los. Das heisse Wasser verursachte auf den wunden Hinterbacken einen hoellischen Schmerz.

III

Sonntags versammelten sich viele Einwohner in den Kirchen des kleinen Staedtchens. Auch Heiners Eltern nahmen ihn und seine Geschwister stets mit zum Gottesdienst. An diesem Morgen traf es sich, dass die beiden Freunde nebeneinander in der fuenften Reihe sitzen konnten. Manfred machte zur Begruessung eine ‚Hau-Hau-Bewegung mit der Hand. Unter seinen Augen waren rote Raender zu sehen.

„Vorhin hab ichs richtig gekriegt, fluesterte er Heiner zu. „Mein Vater hat die Stockstriemen gesehen, als ich aus der Dusche kam.

Heiner spuerte, wie er rot anlief. Das Thema war ihm aeusserst unangenehm.

„Und was war bei euch?, begehrte Manfred zu wissen.

Heiner wand sich. Sollte er die Wahrheit sagen oder seinem besten Freund ins Gesicht luegen? Er traf eine Entscheidung:

„Ich hab schon gestern Dresche bekommen, sagte er ganz leise.

Waehrend des Gottesdienstes konnte man beobachten, wie die beiden Jungs immer wieder unruhig auf der harten Kirchenbank herumrutschten. Ihre Podexe schmerzten doch noch ganz gewaltig. Bei Manfred war es gerade mal eine gute Stunde her, dass ihm sein Vater mit einem Elektrokabel fuerchterlich den nackten Hintern ausgehauen hatte.

In seiner Predigt wetterte der Pfarrer gegen die ‚Auswuechse der neuen Zeit, schimpfte auf ‚Rowdies und Halbstarke und fuehrte – wenn auch nicht im selben Satz – die Begriffe ‚Zucht und ‚Ordnung im Munde. Viele der Anwesenden nickten immer wieder heftig. Ganz hinten, in der letzten Reihe, sass Lehrer Bendow mit seiner Frau und den vier Kindern und laechelte stillvergnuegt in sich hinein. So lange es noch genuegend Maenner wie ihn in diesem Lande gab, wuerde die Jugend zumindest nicht ganz verderben. Und der Rohrstock war ihm fuer seine Mission der beste Helfer – sowohl in der Schule als auch daheim.


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