Brüder Im Geiste German


by Hans Jorgens

Sie hatten gesungen: "Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen", eines ihrer Lieblingslieder. Dass es sich dabei um ein programmatisches Machwerk aus der vor mehr als zehn Jahren zu Ende gegangenen Zeit des Nationalsozialismus handelte, war ihnen nicht etwa egal. Sie wussten es, und sie sangen dieses Lied stets mit besonders grosser Inbrunst. Wenn sie betrunken waren und so recht gemuetlich unter sich, die Maenner des Schuetzenvereins zu Britzbach, dann geschah es fast immer, dass einer von ihnen, irgendwann zu fortgeschrittener Zeit, das Wort "Fahne" in den verraeucherten Raum rief. Das war das Signal fuer alle, und schon ging's los. Natuerlich lebte man inzwischen in einer sogenannten Demokratie. Doch das musste ja nicht bedeuten, dass man von dieser auch ununterbrochen begeistert war. Wenn sie nuechtern waren, die Maenner vom Schuetzenverein, dann dachten sie nicht an dieses Lied. Dann dachten sie auch nur noch selten an jene zwoelf Jahre zurueck, die die meisten von ihnen als Erwachsene, Jugendliche oder Kinder selbst noch miterlebt hatten. Nein, im Alltag waren sie alle gute Demokraten. Fleissig, ehrlich, zuverlaessig oder zusammengefasst: 'Fez', wie ihr Buergermeister Heinrich Striepen die Haupteigenschaften der Bewohner von Britzbach einmal in einer seiner launigen Ansprachen zusammengefasst hatte. Fez war eine Stadt in Marokko und eine nach ihr benannte Kopfbedeckung. Das hatten aber nur die wenigsten der Anwesenden im Saal gewusst. Fuer sie hatte 'Fez' eine andere Bedeutung, naemlich so etwas wie Aufregung oder gar Aufruhr. Auf jeden Fall nichts Gutes. Und gerade dieser Gegensatz hatte fuer sie die Bemerkung ihres Buergermeisters so besonders witzig gemacht.

Die Stimmung war jedenfalls grossartig unter den etwa fuenfzehn Maennern an jenem Juliabend des Jahres 1956. Jeder hatte bereits ein Quantum an Bier und Korn genossen, das etwaige Hemmungen in jeder Hinsicht auf einen Punkt nahe Null hatte sinken lassen. Daher auch das Lied, das sie gesungen hatten. Natuerlich wussten sie, dass dieses Lied verboten war in der Bundesrepublik Deutschland, aber das kuemmerte sie, wenn sie so richtig in Fahrt waren, eher wenig. Rudolf Rolleck war ganz besonders in Fahrt, und das lag daran, dass er an jenem Abend mit den Schuetzenbruedern seinen 40. Geburtstag nachfeierte. Etwas schwankend erhob er sich von seinem Platz und klopfte mit einem Loeffel gegen sein Bierglas, um sich bei dem nicht unerheblichen Laermpegel Gehoer zu verschaffen. Nach etwa einer Minute hatte er das schliesslich geschafft.

"Liebe Waffenbrueder", begann er seine Tischrede. "Liebe Waffen- und Schuetzenbrueder und Brueder im Geiste!".

Die Maenner lachten und liessen ihre Kommentare zu dieser eigenwilligen Anrede ab. Rudi war offensichtlich gross in Form.

"Ich freue mich, dass ich euch heute ... dass ich mit euch heute abend hier auf meinen Geburtstag anstossen darf."

Er musste sich schon gehoerig zusammenreissen, um die Worte einigermassen sicher hervorzubringen. Schliesslich war er auch ein wenig nervoes.

"Ich bin gluecklich, dass ich mich jetzt hier in diesem vertrauten Kreise betrinken ... aeh befinden darf. Ich muss euch sagen, dass ich heute einen Scheisstag gehabt habe. In meinem Betrieb gab es Ärger wegen eines geplatzten Auftrages, meine Frau ist sauer, weil ich nicht mit ihr ins Kino gegangen bin, und vorhin hatte ich dann auch noch die Ehre, meinem Herrn Sohn fuer sein saumaessig schlechtes Zeugnis kraeftig den Arsch zu versohlen."

Geraune und Gelaechter im Raum.

"Richtig so", rief Willi Piesold "meiner kriegt sie morgen nach der Kirche! Das weiss er auch schon".

"Zwei Fuenfen und drei Vieren bringt der Bengel mir nach Hause", setzte Rolleck seine Rede fort. "Gerade mal vierzehn Jahre alt und faul wie die Suende. Aber das gewoehne ich ihm ab. Jede Wette, dass er im naechsten Zeugnis keine Fuenf mehr hat!". Niemand mochte dagegen halten. "Also, Freunde, mein Tag war Scheisse, aber jetzt bin ich ja bei euch, und da geht's mir gleich viel besser. Prost !!!".

Die Maenner erhoben sich und sangen ihrem Rudi ein Staendchen. Dann machten sie sich wieder ueber die Getraenke her.

"Sag' mal, wie hast du's deinem Klausi denn besorgt?", wandte sich sein Schuetzenbruder Peter Schulze an Rudi. "Kriegt er sie auf den Nackten?".

"Darauf kannst du einen lassen", erwiderte Rudi, "halbe Sachen gibt es bei mir nicht. Ich hab' ihn mit dem Zeugnis in der Stube antreten lassen. Er heulte schon fast, als er reinkam. Da wusste ich natuerlich Bescheid. Ganz langsam und sorgfaeltig habe ich das Giftblatt studiert, waehrend der Bengel mit den Haenden an der Hosennaht vor mir stand. Von Hosennaht kann allerdings eigentlich nicht die Rede sein, denn von Maerz bis Oktober traegt er natuerlich seine kurze Lederhose. Als ich fertig war mit dem Studieren, hab' ich ihn ganz streng und wuetend angesehen. 'Du weisst ja wohl, was faellig ist?', hab' ich nur gesagt. Da stand schon das Wasser in seinen Augen. Er bettelte ein bisschen 'rum, aber er weiss natuerlich ganz genau, dass ihm das nichts nuetzt. 'Hol' den Gelben', hab' ich nur gesagt. Er musste auf einen Stuhl steigen, um den Rohrstock oben vom Stubenschrank zu holen. Das Weitere kennt er dann schon. Die Hosen kommen 'runter, und er legt sich ueber die Ruecklehne von unserem alten Sessel. Tja, und dann kriegt er seine Senge. Da wird's immer ziemlich laut bei uns, aber das gehoert dazu."

"Wieviel hat er denn gekriegt?", fragte Peter Schulze interessiert und nahm noch einen Schluck Bier.

"Ein Dutzend. Richtige Jagdhiebe diesmal. Der Bengel hat gejault wie unser Bello, wenn Vollmond ist."

"Da wird er ja erstmal ein paar Tage Probleme beim Sitzen haben, der Klausi!".

"Der Klausi musste nach seiner Tracht sofort ins Bett, und da kann er meinetwegen bis morgen frueh auf dem Bauch liegen. Und beim Fruehstueck darf er sich ein Kissen unter den Arsch legen oder im Stehen essen. Ganz wie er will, da bin ich Demokrat!".

Peter lachte. "Kriegt er sie eigentlich immer mit dem Stock?", fragte er.

"Natuerlich, dafuer ist der ja da. Warum fragst du?".

"Ach, nur so aus Interesse. Meine Beiden machen mir zur Zeit 'ne Menge Sorgen. Sie sind frech zu ihrer Mutter und kommen des oefteren Abends zu spaet nach Hause. Vor allem mein Ältester. Ich hab' ihm ein paar Mal mit meinem Latschen den Arsch versohlt. Er jammert und heult dann zwar immer 'rum, aber manchmal denke ich, dass er hinterher heimlich drueber lacht. Vielleicht sollte ich mir fuer den Bengel auch mal so einen Biegsamen anschaffen."

"Wie alt ist dein Michael denn inzwischen?"

"Letzten Monat 15 geworden."

"Na, dann solltest du dir auf jeden Fall einen Stock besorgen. Meiner kriegt sie damit seit Jahren, und er hat einen Heidenrespekt davor."

"Ich weiss nicht so recht. Wie man hoert, zieht der Rohrstock ganz gewaltig durch und hinterlaesst ganz eindrucksvolle Striemen."

"Na klar, das ist schliesslich sein Zweck. Wenn Klaus sie auf die Hose oder die Unterhose kriegt, ist es nicht ganz so dramatisch, aber wehe, ich besorge es ihm auf den Nackten. Dann hat er wirklich 'ne ganze Zeit was davon. Aber so soll es ja schliesslich auch sein, oder?"

Schulze dachte nach. "Wahrscheinlich hast du Recht!"

"Na klar hab' ich Recht", erwiderte Rolleck. "Ich wuerde mir von so einem Halbstarken jedenfalls nicht auf der Nase 'rumtanzen lassen. Frech zur Mutter? Zu spaet nach Hause kommen? Das wuerde ich meinem Sohnemann nicht raten."

Die beiden Maenner tranken ihr Bier. Der Laermpegel im Raum hatte inzwischen beachtliche Ausmasse angenommen. Auch einige andere Schuetzenbrueder unterhielten sich ueber ihre haeuslichen Erziehungsmethoden.

"Sag' mal, hast du denn damals nie von deinem Alten den Rohrstock gekriegt?", nahm Rudi Rolleck den Faden wieder auf.

"Nee, bei uns gab's immer den Pantoffel. War auch nicht gerade angenehm, wenn du das Ding fuffzig Mal auf's nackte Fell gedroschen bekamst."

"Und in der Schule?"

"Ach, ich war immer ziemlich brav. Nur ein- oder zwei Mal hab' ich einen Hieb vom alten Sackel bezogen. Aber auf den Hosenboden. Da habe ich dann wirklich drueber gelacht."

Rolleck grinste. "Ja, ja, war ein ziemlich Netter, der Sackel. Manchmal zu nett."

"Hast du denn zu Hause den Rohrstock gekriegt?", fragte Peter Schulze.

"Aber nicht zu knapp, mein Lieber. Bei Rollecks ging's ganz schoen rund. Wir waren schliesslich vier Jungs, da musste der Alte sich durchsetzen koennen. Und das hat er getan. Bei uns verging keine Woche, in der nicht irgend jemand ueber'm Bock lag und seine Senge bekam. Aua, aua, kann ich nur sagen. Wir haben geflennt wie kleine Maedchen, wenn wir dran waren. Anschliessend mussten wir 'ne Stunde mit heruntergelassener Hose in der Ecke stehen. Und wehe, einer hat es gewagt, dabei seinen Hintern zu reiben. Dann gab's 'ne schoene Extraportion."

"Jetzt, wo du's sagst, faellt mir ein, dass ich ein paar Mal bei dir oder einem deiner Brueder Striemen auf den Oberschenkeln gesehen habe."

Rolleck nickte heftig. "Da kannte er gar nichts, unser alter Herr. Der zwiebelte sie dir auch da hin, wo man sie spaeter sehr gut sehen konnte. Na ja, wir haben unser'n Arschvoll aber immer verdient gehabt, muss ich dazu sagen."

"Wart schon ein ziemlich munterer Haufen, ihr Rolleck-Brueder!"

"Das kannst du laut sagen, Peter. Manchmal mussten wir auch alle vier zum Arschvoll antreten. Wie die Orgelpfeifen standen wir dann in der Stube und sahen zu, wie jeder einzelne seine Wichse kriegte. Alle Achtung, da war was los im Hause Rolleck. Unser Gejaule muss jeder in der Nachbarschaft gehoert haben. Und hinterher konntest du die Orgelpfeifen mit ihren verstriemten Hinterteilen begutachten. Wenn wichtiger Besuch kam, wurde er in die gute Stube gefuehrt und bekam die vier Rolleck-Jungs von ihrer leuchtendsten Seite zu sehen. Das war unserem Alten ganz egal. Waere ein tolles Foto fuer die Familienseite im Lokalanzeiger geworden!"

"Überschrift: Die vier Musketiere ohne Hosen!"

Rudi Rolleck lachte herzhaft: "Genau!!", rief er begeistert.

"Benutzt du eigentlich noch den alten Rohrstock von deinem Vater?", wollte Peter Schulze wissen.

"Nee, nee. Mein Alter hat damals 'ne ganze Menge von der Sorte verbraucht. Ich hab' mir neue besorgt. Beste Qualitaet. Kriegst du beim Korbmacher in der Stadt."

"Ach, du hast gleich mehrere?"

"Drei Stueck. So ist immer Ersatz da, falls doch mal einer den Geist aufgibt."

Schulze dachte nach. "Sag' mal, Rudi, kann ich dich um einen Gefallen bitten?", fragte er schliesslich.

"Aber immer."

"Leihst du mir einen von deinen Rohrstoecken fuer ein paar Tage aus? Ich wuerde ihn dann nachher gleich mitnehmen, wenn wir nach Hause gehen."

Rudi grinste. "Na, klar, Peter. Den Gefallen tu' ich dir sogar gerne. Willst du deinen Michael damit ueberraschen?"

"Genau. Ich glaube, er braucht dringend mal 'ne richtige Abreibung. In letzter Zeit steckt er naemlich unseren Frank schon mit seinem Verhalten an. Fuer so einen Steppke ist der grosse Bruder natuerlich ein grosses Vorbild. Und wozu dient ein Vorbild? Man versucht, es ihm gleich zu tun. Ich will aber, dass Michael ein Vorbild fuer Gehorsam ist und nicht fuer Ungehorsam. Basta."

"Das hast du schoen gesagt."

"Nicht wahr?"

Die beiden Maenner stiessen miteinander an. Zur gleichen Zeit lag der vierzehnjaehrige Klaus Rollek baeuchlings auf seinem Bett und versuchte vergeblich, in dieser unbequemen Lage einzuschlafen. Der fuenfzehnjaehrige Michael Schulze und sein elfjaehriger Bruder Frank schlummerten hingegen bereits friedlich in den kommenden Sonntag hinein. Michael traeumte von dem neuen Fahrrad, das er sich zusammengespart hatte und naechste Woche endlich kaufen wuerde. Seine Bettdecke war zur Seite gerutscht, und so waren die kraeftigen Hinterbacken des schlanken Jungen unter der schon etwas zu eng gewordenen Schlafanzughose deutlich zu erkennen.


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