Der Tag Meiner Musterung German


by Hans Jorgens

Der Termin meiner Musterung war auf einen Montag im Mai 1962 festgelegt worden. Dass ich den Grundwehrdienst bei der Bundeswehr ableisten wuerde, war fuer mich sonnenklar. Niemals waere ich auf die Idee gekommen, einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung zu stellen. "So etwas gibt es bei mir nicht", hatte mein Vater mal bei irgend einer Gelegenheit geknurrt, und damit war die Sache dann auch erledigt gewesen. "Alten Opas den Hintern abzuwischen" galt ihm als absolut unmaennlich und war damit ausserhalb jeder Diskussion.

Meine beiden juengeren Brueder und ich hatte er zu Ehrlichkeit, Fleiss, Sauberkeit, Ordnung und vor allen Dingen zum Gehorsam erzogen. Wenn die Eltern eine Anordnung trafen, dann war ihr auch Folge zu leisten; langes Zoegern oder gar 'Vergessen' hatte fuer uns stets unangenehme Folgen. Diese konnten ganz unterschiedlich aussehen: Stubenarrest, Zusatzarbeit im Haus, diverse Verbote, Ohrfeigen, eine Tracht Pruegel oder auch immer wieder neue Kombinationen aus den genannten Erziehungsmitteln.

Sicherlich ist es kein reines Zuckerschlecken, drei Jungen gross zu ziehen, nur waren damals die Methoden, mit denen solches geschah, ungleich konsequenter als in der heutigen Zeit. Gleichwohl hatten wir oftmals das Empfinden, als wuerde unser Vater seinen Willen noch ein Stueckchen haerter und ruecksichtsloser durchsetzen, als andere. Und ich als der aelteste Sohn war, ganz objektiv betrachtet, ein noch aermeres Schwein als meine Brueder, denn ihnen liess man einige Dinge durchgehen, die bei mir noch zu scharfen erzieherischen Massnahmen gefuehrt haetten oder hatten. Trotzdem bekamen auch sie durchaus 'ihr Fett weg'.

Der Tag meiner Musterung fing schlecht an. Ich ueberhoerte den auf acht Uhr dreissig eingestellten Wecker und wachte erst gegen viertel nach neun auf. Draussen auf der Strasse herrschte schon reges Treiben. Mir den Schlaf aus den Augen reibend, blickte auf die Uhr, und ploetzlich wurde mir klar, dass es viel spaeter war als an einem gewoehnlichen Schultag. Ich erinnerte mich an meinen Musterungstermin: 10 Uhr, Kreiswehrersatzamt. Verdammt, das war in gut fuenfundvierzig Minuten! Warum hatte mich denn niemand geweckt?

Hastig sprang ich aus dem Bett und lief ins Badezimmer. Beim Zaehneputzen fiel mir ein, dass niemand sonst zu Hause war, denn meine Mutter verdiente an drei Tagen in der Woche als Verkaeuferin in einem Kolonialwarengeschaeft dazu.

Als ich die enge Schlafanzughose herunter zog, wurde ich erstmals an diesem Tag an die Striemen auf meinem Hinterteil erinnert. Am Sonnabend hatte ich naemlich von meinem Vater eine ordentliche Tracht mit dem Rohrstock bekommen. Dass zwei Tage spaeter mein Musterungstermin anstand, war ihm dabei vielleicht egal gewesen; wahrscheinlicher war aber, dass er in seinem Zorn einfach nicht daran gedacht hatte.

Die Pruegel hatten sich schon ueber laengere Zeit angekuendigt, denn das Verhaeltnis zwischen mir und meinem Vater war zu jener Zeit gelinde gesagt etwas bewoelkt, und des oefteren stand die Wetterlage unmittelbar vor einem reinigenden Gewitter.

Genau dieses war am Sonnabend dann eingetreten. Ich weiss es heute nicht mehr genau, aber wahrscheinlich hatte es etwas mit meinem damaligen Gesamtverhalten zu tun. Zwar waere es unvorstellbar gewesen, dass ich Mutter offen als 'bloede Kuh' tituliert oder Vater als 'alten Spiesser' bezeichnet haette, aber die Gedanken sind ja bekanntlich frei, und wahrscheinlich konnte man sie meinem Teenagergesicht recht deutlich ansehen. In Kombination mit gewissen alltaeglichen Trotzreaktionen drohte das Ganze, zu fuer mich sehr unangenehmen Konsequenzen zu fuehren.

Als Achtzehnjaehriger war ich natuerlich nicht mehr wirklich ein Kind, selbst wenn ich per Gesetz noch als ein solches zu gelten hatte, denn die sogenannte Volljaehrigkeit erwarb man in jener Zeit erst mit Vollendung des 21. Lebensjahres. Doch ich hatte laengst begonnen, huebsche Maedchen zu kuessen, trug enge Blue Jeans, wenn ich zu den abendlichen Tanzveranstaltungen radelte, und hoerte auf meinem Transistorradio die neuesten heissen Scheiben aus England und Amerika. Garantiert wurde dann irgendwann die Tuer geoeffnet, und es kam der Befehl, 'diese Urwaldmusik' leiser zu machen, oft verbunden mit der Frage, ob ich meine Hausaufgaben denn schon alle erledigt haette.

Nach dem Duschen stellte ich mich auf einen hoelzernen Hocker und betrachtete meine verstriemte Kehrseite im Badezimmerspiegel. Alle Achtung, das sah ja richtig schlimm aus! Meine Hinterbacken leuchteten in den unterschiedlichsten Farben, und die doppelrilligen Spuren, die der gottverdammte Rohrstock hinterlassen hatte, zeichneten sich nur allzu deutlich auf der glatten Haut ab. Instaendig hoffte ich, dass ich bei der Musterung wenigstens meine Badehose anbehalten duerfen wuerde, bis auf die man sich laut Vorladungsschreiben ausziehen musste. Trotzdem wuerden einige Auslaeufer der Striemen auch unterhalb des Stoffsaumes sichtbar sein, denn die Badehosen waren damals sehr knapp geschnitten.

Wie der Blitz zog ich mich an, schaufelte Cornflakes und Milch in mich hinein, verliess das Haus und schwang mich auf mein Fahrrad. Um Punkt zehn Uhr erreichte ich den Platz, dessen oestliche Begrenzung das eindrucksvolle neoklassizistische Gebaeude darstellte, in dem das Kreiswehrersatzamt residierte. Ich stellte das Fahrrad ab, ging in das Gebaeude, orientierte mich anhand meiner Vorladung und fuhr mit dem Paternoster in den dritten Stock. 10 Uhr und sieben Minuten. Ich ging zur Anmeldung, erntete einen kurzen, missbilligenden Blick, musste einige Fragen beantworten und wurde in das Umkleidezimmer geschickt.

Der Raum war vielleicht dreissig Quadratmeter gross, enthielt lange Reihen von Holzbaenken und schmale, abschliessbare Metallschraenke fuer die Strassenkleidung der Musterungskandidaten. Es wimmelte darin von jungen Maennern in meinem Alter und roch nach einer Mischung aus Kaesefuessen, Koerperschweiss und billigem Rasierwasser. An der Wand hing ein grosses Schild mit Anweisungen wie "Ausziehen bis auf die Bade- oder Turnhose, Kleidungsstuecke in einen Schrank, Schrank abschliessen, Schluessel in die Hand nehmen, gut drauf aufpassen, auf die Bank setzen und warten, bis Ihr Name aufgerufen wird!". Das mit der Turnhose musste ich in dem Anschreiben ueberlesen haben.

Ich beeilte mich, aus den Sachen zu kommen, suchte mir einen freien Garderobenschrank, schloss ihn ab und setzte mich auf die harte Holzbank. Dabei verzog ich unwillkuerlich mein Gesicht, denn mein Hintern war nach der Tracht vom Sonnabend noch recht empfindlich. Der Junge links neben mir grinste mich wie verstehend an, sagte aber nichts. Ich laechelte verlegen zurueck und sagte auch nichts.

Einige der Musterungskandidaten plauderten munter miteinander, die meisten aber sassen schweigend da und warteten ab, was auf sie zukommen wuerde. Bald schon wurde der erste Name aufgerufen. Ich fuerchtete mich vor dem Augenblick, wenn ich quer durch den Raum gehen musste und alle meine Rueckfront betrachten wuerden. Verstohlen forschte ich mit den Augen nach Spuren des vaeterlichen Hinternvolles auf den oberen seitlichen Partien meiner Oberschenkel. Nichts zu entdecken Aber wie wuerde es hinten aussehen? Ich begann leicht zu schwitzen.

Der nette Junge neben mir wurde aufgerufen. Als er durch den Raum ging, sah ich auf seinen Hintern. Keinerlei blaue Flecken oder Striemen zu sehen. Natuerlich nicht - was hatte ich denn erwartet? Dass jeder zweite Anwesende vor seiner Musterung zu Hause den Arsch voll bekommen hatte? Die meisten hatten wahrscheinlich mit dreizehn, vierzehn, vielleicht auch fuenfzehn Jahren ihre allerletzte Tracht bezogen.

Irgendwann war es dann so weit: Die Tuer des Nebenraumes wurde halb geoeffnet, und ein Mann im weissen Kittel rief meinen Namen auf. Ich spuerte, wie ich rot wurde, und hasste mich dafuer. Beobachtet von vielleicht noch sieben, acht Augenpaaren machte ich mich auf den Weg. Warum zitterten mir denn bloss die Knie? Ich hoerte ein leichtes Prusten, und dann fluesterten einige der Wartenden miteinander. Verdammt, war also doch etwas zu sehen?

"Nun machen Se mal ein bisschen flott, bester Herr!", naeselte der Mann in der Tuer. Ich zog das Tempo an und schluepfte erleichtert in den Untersuchungsraum. Der Mann im weissen Kittel gab mir die Hand.

"Doktor Dalgowski. Und Ihr werter Name?".

Ich sagte ihn.

"Geboren am Zwoten Vierten Vierundvierzig in Breslau?"

"Ja."

"Bestens."

Er drueckte mir ein Flaeschchen in die Hand.

"Sie nehmen das Ding, gehen dort aufs Klo und pullern hinein. Nicht ins Klo, sondern in die Flasche. Damit kommen Se dann wieder zu mir."

Ich ging in die kleine Kabine, versuchte mit meinem Strahl in das Gefaess zu treffen, was einigermassen funktionierte, und ging zu dem Mann zurueck. Er nahm das Flaeschchen an sich, verschloss es, reinigte es unter einem Wasserstrahl, trocknete es ab, machte einen Aufkleber drauf und gab es einem Kollegen, der damit verschwand.

"Gut. Und nu stell'n Se sich mal da auf dieses Ding da an der Wand."

Es war eine Kombination aus Waage und Laengenmass.

"Vierundsechzig Kilogramm, Groesse hundertsechsundsiebzig Zentimeter. Kommen Se mal mit."

Wir gingen in die Mitte des Raumes. Er stellte sich vor mich.

"Nu machen Se mal 'Aaaah'."

Er guckte mir in den Mund und drueckte meine Zunge mit einem flachen Holzspachtel nach unten. Dann zog er die Haut unterhalb der Augen nach unten und betrachtete meine Augaepfel.

"Gut."

Er hoerte meinen Herzschlag ab, untersuchte den Puls und verkuendete die Ergebnisse, die von einer aelteren Dame sorgfaeltig aufgeschrieben wurden.

"Nu lassen Se mal bitte ihre Badehose runter."

Ich zoegerte einen Augenblick.

"Keine Angst, ich schneide schon Ihnen nichts ab ", sagte er beruhigend.

Ich zog die Hose runter. Der Arzt griff nach meinen Hoden und drueckte sie leicht.

"Husten Se mal bitte", sagte er.

Ich versuchte es.

"Richtig laut mehrmals husten. Tun Se mal so, als ob Se 'ne Erkaeltung haetten.

Zweiter Versuch.

"Gut. Hose hoch und umdrehen!"

Hastig folgte ich seiner Anweisung.

Er klopfte mein Rueckgrat mit einem Haemmerchen und dann mit einem Fingerknoechel ab.

"Hmm, hmm. Mal buecken. Knie durchgedrueckt, Haende flach auf den Boden."

Ich versuchte es, kam aber mit den Fingerspitzen gerade mal bis zu den Fuessen.

Der Doktor stand seitlich hinter mir und pfiff leise durch die Zaehne.

"Wohl Ärger mit Ihrem alten Herrn gehabt, was?".

Er hatte also die Striemen entdeckt. Ich spuerte, dass ich wieder rot wurde.

"Beste altdeutsche Handschrift, wie ich sehe. So, nun versuchen Se mal, mit den Haenden ganz nach unten zu kommen. Na los, das kann doch noch nicht alles gewesen sein."

Ich keuchte vor Anstrengung.

"Na gut, dann kommen Se mal wieder hoch. Leichter Haltungsschaden. Wirbelsaeulenkruemmung. Nicht dramatisch, aber deutlich vorhanden. Wie oft hat Ihre Mutter zu Ihnen gesagt: 'Sitz' mal grade, Junge'?. Lassen Se mich raten: mindestens schon hundert Mal. Richtig?".

Ich grinste etwas schief.

"Stimmt", sagte ich wahrheitsgemaess.

"Alles klar", sagte er, verschmitzt laechelnd. "Und die bunten Streifen auf dem Hintern jucken bestimmt noch heftig, wie? Klare Rohrstockallergie. Hatte ich als Junge auch des oefteren. Es gibt noch kein Medikament dagegen. Ist aber nicht ansteckend und geht nach ein paar Tagen wieder weg!"

Fuer eine schlagfertige Antwort war ich viel zu verlegen.

"Und so was kann sogar vererbbar sein", fuhr er fort. "Meine beiden Soehne leiden da naemlich auch drunter, und zwar gar nicht so selten!".

Er zwinkerte mit dem rechten Auge, und ich musste lachen.

"Na also", sagte der Doktor, "es geht doch, Jungchen. Beim Militaer darf man nicht so empfindlich sein. Da muss man auch mal ueber sich selbst lachen koennen, sonst ist man schnell aussen vor. Guter Rat von mir und dazu voellig kostenlos!"

Nun hatte ich mich ein bisschen eingekriegt.

"Alles klar", sagte ich und deutete eine Ehrenbezeugung an.

"Bestens. So, nu aber weiter im Text. Als naechstes duerfen Sie in den naechsten Raum gehen und kraeftig in einen Schlauch pusten. Da sehen wir dann, ob Ihr Lungenvolumen den Anforderungen der Truppe entspricht."

Nach einigen weiteren Stationen wurde ich von Dr. Dalgowski per Handschlag verabschiedet und durfte mich wieder anziehen. Anschliessend kam die sogenannte Eignungsuntersuchung, bei der unter anderem Intelligenz und Reaktionsvermoegen getestet wurden, und am Ende verkuendete mir der Musterungsausschuss, dass ich wehrdiensttauglich sei und unmittelbar nach dem Abitur mit meiner Einberufung zu rechnen habe. In welchen Standort ich zur Grundausbildung kommen wuerde, koenne man mir noch nicht sagen. Das wuerde demnaechst verfuegt werden. Noch weitere Fragen? Mir fiel keine ein, also wurde ich, den Musterungsbescheid in der Hand haltend, entlassen.

Draussen vor der Tuer erwartete mich der Junge, der im Umkleideraum neben mir gesessen hatte. Er trug eine kurze Lederhose und sah viel juenger aus, als er war.

"Na, musst du zum Barras?", fragte er mich neugierig.

Ich nickte. "Du auch?".

"Ja, leider."

"Tja, alles Gute dann", sagte ich und wandte mich zum Gehen.

Er hielt mich kurz am Hemdaermel fest, sah mich mit seinen blitzblauen Augen an und laechelte.

"Da drinnen im Umkleideraum habe ich deine Striemen gesehen, und dass du Probleme beim Hinsetzen hattest, war auch deutlich zu merken. Von meinem Vater krieg' ich es einmal im Monat mit dem Rohrstock, und wenn ich nicht pariere, dann auch noch zwischendurch. Das wollte ich dir nur sagen, damit du nicht denkst, dass du der einzige in unserem Alter bist, der noch Dresche kriegt".

Ich war natuerlich schon wieder rot geworden, bekam aber muehsam ein Laecheln hin.

"Danke. Nett von dir."

"Keine Ursache. So, jetzt muss ich aber los. Da kommt mein Vater. Der holt mich ab, weil wir ziemlich weit draussen wohnen. Mach's gut!".

"Du auch!".

Ein VW Kaefer hielt am Strassenrand. Der Junge oeffnete die Beifahrertuer und stieg ein. Als der Wagen wendete, konnte ich den Mann am Steuer fuer einen Augenblick gut erkennen. Es war ein Montag im Mai 1962, und die Sonne schien aus einem wolkenlosen Himmel. Ich nahm mir vor, ins Freibad zu fahren. Sollten doch alle meine Striemen sehen; es war mir auf einmal fast egal.


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