Ein Feiner Herr


by Hans Jorgens

Vor wenigen Wochen verbrachte ich wegen eines Seminars ein paar Naechte in einem grossen Hotel in Muenchen. Durch das Fluidum und die Atmosphaere in dem Haus wurde ich unvermittelt und heftig an ein Erlebnis erinnert, das mir waehrend einer kurzen Episode meines Lebens in den spaeten fuenfziger Jahren widerfahren ist.

Ich hatte gerade die Schule beendet, und da meine Lehre erst im Oktober beginnen sollte, beschaffte mir meine Mutter ueber eine Bekannte einen Zwischenjob als Page im besten Hotel unserer Stadt. Das hatte nicht nur den Zweck, mich 'von der Strasse zu holen', sondern ich sollte durch diese Taetigkeit auch ein wenig zum aeusserst schmalen Familieneinkommen beitragen. Mein Vater hatte als Hausmeister einer Gewerbeschule grosse Probleme, seine fuenfkoepfige Sippe finanziell ueber Wasser zu halten, zumal er einen nicht unerheblichen Teil seines Lohns in Branntwein und Bier zu investieren pflegte.

Also trat ich kurz nach meinem sechzehnten Geburtstag im Hotel 'Zur Boerse' an, um mich in niederen Hilfstaetigkeiten, wie etwa dem Tragen von Koffern, zu ueben. Immerhin erhielt ich zu diesem Behufe eine ganz wunderbare Livree, eine Art Uniform, karmesinrot und matt glaenzend, mit goldenen Knoepfen. Sie passte mir wie eine zweite Haut, und ich sah damit, wie die Frau des Empfangschefs sich auszudruecken pflegte, "ganz herzallerliebst" aus. Diese Livree trug ich mit stolz geschwellter Knabenbrust durch die vielen Raeumlichkeiten des Hotels und fuehlte mich dabei wie der Koenig von Tonga.

Die Arbeit machte mir Spass, zumal ich die dabei anfallenden Trinkgelder der zumeist betuchten Gaeste ganz fuer mich behalten durfte. Schon nach wenigen Tagen war ich fuer die Mitarbeiter des Hauses zu einem stets gern gesehenen Helferlein avanciert, das sich fuer keinen Auftrag zu schade war. Ich bluehte regelrecht auf, da ich dort jene Anerkennung erhielt, die mir meine ueberforderte Mutter und mein ewig angesaeuselter Vater zumeist vorenthielten. Das Dasein war also sehr angenehm.

Eines Tages checkte ein Gast ein, dessen Koffer ich in sein Zimmer transportieren sollte. Waehrend wir mit dem Fahrstuhl bis in den fuenften Stock fuhren, fiel mir auf, dass der Herr immer wieder kurz zu mir hinueberblickte und mich gleichsam von oben bis unten zu mustern schien. Das war etwas ungewoehnlich, denn normalerweise wurde dem Pagen keine weitere Beachtung geschenkt.

In seinem Zimmer angekommen, legte ich den Koffer nach einem kurzen Wink des Mannes auf sein Bett. Er war bei der Tuer stehen geblieben und schien in seiner Jackettasche nach etwas Trinkgeld zu suchen. Als ich auf ihn zutrat, laechelte er mich freundlich an und drueckte mir ein hell glaenzendes Fuenfmarkstueck in die Hand. Das war viel mehr als sonst ueblich. Ich machte einen tiefen Diener und bedankte mich mit einer Mischung aus Freude und Verlegenheit.

"Schon gut, mein Junge", sagte der Mann, "du kannst es bestimmt gut gebrauchen!"

"Na klar", sagte ich strahlend und verliess das Zimmer.

In den naechsten Tagen sah ich den Gast des oefteren. Jedes Mal, wenn er mich erblickte, hellte sich sein Gesicht auf, und wenn es niemand merkte, zwinkerte er mir sogar zu. Ich schaetzte ihn auf etwa fuenfzig Jahre. Stets sah er serioes und elegant aus, sein dunkelgrauer Zweireiher, das bluetenweisse Hemd, die unauffaellige, schmale Krawatte und die spiegelblank geputzten schwarzen Lackschuhe verliehen ihm Gediegenheit und Wuerde. Er war schlank und hoch aufgeschossen, sein volles, nur an den Seiten leicht angegrautes Haar wurde sicherlich von einem teuren Coiffeur in Form gehalten. Ich nahm an, dass er Chef einer grossen Firma oder etwas Vergleichbares sein musste. Sass er mit weiteren Herren im Foyer zusammen, bestellte er stets nur Kaffee oder Mineralwasser, waehrend die anderen auch gerne einmal Bier oder Wein tranken.

Wenn ich still fuer mich diesen Mann mit meinem Vater verglich, der zumeist in Unterhemd und einer alten, formlosen Trainingshose am aufgedunsenen Leib in der Kueche sass, vor sich Pulle und Glas mit klarem Schnaps, den er langsam in sich hineinlaufen liess und dabei Kreuzwortraetsel loeste, dann bekam ich eine Ahnung davon, was Geist, Ausstrahlung und Willen im Leben zu bewirken vermoegen.

Eines Nachmittags wurde ich ohne weitere Informationen auf sein Zimmer geschickt. Ich klopfte an und wurde zum Eintreten aufgefordert. Er sass an einem schmalen Sekretaer und schien Papiere zu bearbeiten. Nach etwa einer Minute raeusperte er sich kurz, nahm seine Lesebrille ab und wandte sich mir zu. Der angestrengte Ernst verschwand aus seinem Gesicht, und er begann zu laecheln.

"Nimm doch bitte dort Platz", sagte er leise.

Ich folgte seinem ausgestreckten Arm. Überrascht machte ich mich auf den Weg und setzte mich auf einen Leder bezogenen Stuhl. Er sah mich unentwegt an, und ich musste mich zwingen, seinem Blick standzuhalten.

"Darf ich dich fragen, wie du heisst?", sagte er schliesslich.

Ich nannte ihm Vor- und Nachnamen.

"Schoen", sagte er wie zu sich selbst. "Und wie alt bist du, mein Junge?"

"Sechzehn Jahre", antwortete ich automatisch.

"Schoen. Sehr schoen. Und deine Arbeit macht dir Freude?"

"Ja, sehr. Aber meine richtige Lehre fange ich erst im Oktober an!"

"So, so."

Er schien mir gar nicht zugehoert zu haben.

"Und ... zu Hause ist alles in Ordnung?"

Was wollte dieser fremde Mann von mir? Ich begann, mich langsam etwas unbehaglich zu fuehlen.

"Zu Hause? Ja, ja, alles okay."

"Alles okay", wiederholte er laechelnd. "Lustig, diese jugendlichen Anglizismen!"

Angli ... wie? Dieses Wort hatte ich noch nie gehoert.

"Moechtest du etwas trinken?"

"Nein danke. Vielen Dank."

"Schoen, schoen. Sag' mal, mein Junge, hast du eigentlich von deinen Eltern schon mal richtig was hinten drauf bekommen?"

Diese Frage war so voellig unvermittelt gekommen, dass ich erst mal gar nichts sagte. Dann spuerte ich, dass ich rot wurde, und aergerte mich im gleichen Augenblick darueber. Sein Laecheln verstaerkte sich noch.

"Du musst mir diese Frage nicht beantworten", sagte er sanft.

Da ich so erzogen worden war, dass man zu antworten hat, wenn einen ein Erwachsener etwas fragt, sagte ich schliesslich leise: "Ja, manchmal schon."

"Das dachte ich mir", sagte er, wieder wie zu sich selbst.

Gerne waere ich jetzt aufgestanden und haette das Zimmer schleunigst verlassen, aber ich ruehrte mich nicht vom Fleck. Es war, als klebte ich an der Sitzflaeche des Stuhles fest.

"Du bist ein sehr netter Junge", sagte der Mann mit einer Stimme, in der auf einmal so etwas wie Traurigkeit zu sein schien. "Wuerdest du mir eine grosse Freude machen?"

Ich erinnerte mich an das grosszuegige Trinkgeld von neulich und sagte ohne zu zoegern: "Ja, gerne!"

Sein Blick hellte sich auf.

"Es waere aber etwas ... nun ...eher Unangenehmes fuer dich."

Etwas Unangenehmes? Ich wusste immer noch nicht, worauf er hinaus wollte, also schwieg ich.

"Sparst du gerade auf etwas Bestimmtes?", fragte er.

Ich antwortete, dass ich mir gerne ein neues Fahrrad kaufen wuerde.

"Und wie viel Geld brauchst du dafuer?"

"So etwa hundertfuenfzig Mark."

"Und wie viel hast du schon zusammen?"

Sollte ich ihm sagen, dass in meiner Sparbuechse nicht mehr als dreissig Mark waren? Schliesslich sparte ich gar nicht richtig, sondern gab auch immer mal etwas fuer andere Dinge aus. Ich zuckte mit den Schultern. Wieder laechelte er. "Ist schon gut. Was wuerdest du davon halten, wenn ich dir nachher hundert Mark geben wuerde?"

Hatte ich ihn richtig verstanden?

So viel Geld und noch etwas mehr hatte ich bis dahin nur zu meiner Konfirmation bekommen.

"Aber wofuer denn?", platzte es aus mir heraus.

Nun schien er zum ersten Mal ein wenig unsicher zu werden. Ich bemerkte es an der kurzen fahrigen Bewegung einer Hand, die er zu seiner Krawatte fuehrte und sie dann wieder in den Schoss legte.

"Stell' dir einmal vor, du haettest in einem Geschaeft etwas gestohlen, und dein Vater wuerde davon erfahren. Was wuerde er wohl tun?"

Ich brauchte nicht lange nachzudenken. "Er wuerde ... na ja ... er wuerde mich durchhauen. Und zwar so, dass ich's mir bestimmt merke."

"Und das voellig zu Recht, oder meinst du nicht?"

"Mmh, wohl schon."

"Und nun stell' dir vor, ich haette dich dabei erwischt, wie du gerade etwas von meinem Nachtschraenkchen mitgehen lassen wolltest. Sagen wir, meine Armbanduhr."

"Aber ..."

"Rein theoretisch natuerlich! Was wuerde ich dann wohl tun?"

"Es der Hotelleitung melden."

"Richtig. Aber ich koennte diese unangenehme Sache natuerlich auch anders mit dir regeln. Unter uns, sozusagen."

"Ja?". Ich war jetzt voellig durcheinander.

"Ja, natuerlich. Denk' an das, was dein Vater mit dir machen wuerde!"

Nun erst ging dem naiven kleinen Dummkopf, der ich gewesen war, ein ganzes Lampengeschaeft auf. Gleichzeitig schien in meinem Kopf eine Panzerarmee zu rumoren.

"Aber ich h a b e Ihnen doch ueberhaupt nichts gestohlen!"

"Nein?!?". Sein Laecheln wirkte auf einmal diabolisch. "Natuerlich hast du mir nichts gestohlen. Aber wir koennten doch in den naechsten zehn Minuten so tun, als ob es eben doch so waere. Dann haettest du es ueberstanden, und als Entschaedigung fuer meinen ... Irrtum wuerdest du die hundert Mark kassieren. Was haeltst du davon?"

"GAR NICHTS!!!", haette ich ihm am liebsten ins Gesicht geschrieen, aber aus irgendeinem Grund tat ich es nicht.

Die Panzerarmee kam immer naeher, und der Fussboden schien unter meinem Stuhl zu beben. Was sollte ich jetzt tun? Aufstehen und aus dem Zimmer rennen oder von einem fremden Mann eine Tracht Pruegel einstecken und dafuer maerchenhaft viel Geld bekommen? Sein Gesicht verriet die innere Spannung, unter der er stand, und bei mir musste es genauso sein.

Bis zu der Sekunde, in der ich meinen Mund zum Sprechen oeffnete, wusste ich nicht, wie ich mich entscheiden wuerde. Dann sagte ich: "Und womit wollen Sie mich hauen?"

Das war in jenem Augenblick eine seltsame Frage, aber von meinem Vater kannte ich es so, dass ich meine Schlaege mit einem ihm dafuer geeignet erscheinenden Gegenstand erhielt – meistens mit einem Kochloeffel, manchmal aber auch mit dem Teppichklopfer.

"Nur mit der flachen Hand", sagte der Mann spontan, "aber dafuer auf den nackten Po. Und ich moechte, dass du dich dafuer ueber meinen Schoss legst."

Sofort kam wieder der Abwehrmechanismus in mir hoch: "Ausziehen werde ich mich vor Ihnen nicht!", stiess ich hervor.

Er schien darauf vorbereitet zu sein.

"Akzeptiert", sagte er. "Hundert Mark bekommst du aber nur, wenn du zumindest deine lange Hose herunterlaesst. Ansonsten koennte ich dir leider nur die Haelfte geben!"

Wie klein wirkte dieser Mann auf einmal. Er feilschte mit einem halbwuechsigen Hotelpagen, als befaende er sich auf einem aegyptischen Teppichbasar. Aber ich brachte es nicht fertig, ihm zu sagen, dass er die ganze Sache unter diesen Umstaenden vergessen koenne. Stattdessen schluckte ich kurz und sagte dann: "Okay!"

Als ob er es nicht mehr erwarten konnte, sprang er nun von seinem Platz auf, kam auf mich zu, ging dann aber an mir vorbei und setzte sich auf den Rand seines Doppelbettes.

"Komm' her zu mir, mein Junge", sagte er mit fester Stimme.

Wie ferngesteuert stand ich auf und ging ich zu ihm hin.

"Ich werde dich jetzt dafuer bestrafen, dass du meine Armbanduhr gestohlen hast. Was hast du denn wohl dafuer verdient?"

Fuer einen Augenblick hoffte ich, dass sich die Erde unter mir auftun wuerde, aber nichts geschah.

"Eine Tracht Pruegel?", sagte ich mit schwankender Stimme.

"Sehr richtig, mein Junge, einen ordentlichen Hinternvoll. Also lass' jetzt bitte deine Hose herunter!"

Mein Zoegern fuehrte bei ihm zu einer kurzen, unwirschen Bewegung, die ich so aehnlich auch von meinem Vater kannte. Also oeffnete ich die Knoepfe der Uniformhose, die ueber meine Hinterbacken nach unten zu gleiten begann. Ein kuehler Luftzug liess eine Gaensehaut ueber meine nackten Beine ziehen.

"Nun leg' dich ueber", befahl der Mann, den ich eine Viertelstunde zuvor noch grenzenlos bewundert hatte.

Die Hose rutschte bis zu den Knien hinunter, als ich mit Muehe einen Schritt nach vorne machte. Und dann lag ich ueber dem Schoss des Mannes, der mich gekauft hatte wie eine jener 'Damen', die auf einem Parkplatz am Stadtrand ihre Dienste anboten. Zunaechst geschah ueberhaupt nichts. Er schien das, was sich ihm nun praesentierte, zunaechst einmal zu begutachten.

"Du hast einen sehr huebschen Po", sagte er leise.

Seine Hand strich ueber den duennen Stoff meiner Unterhose und dann ueber die nackte Haut der Oberschenkel. Ploetzlich kam der erste Schlag. Es tat nicht weh, aber trotzdem schrie ich kurz auf. Der zweite Hieb war etwas haerter, ebenso der dritte und vierte.

"Hast du diese Zuechtigung verdient?", fragte es von oben.

Wieder ein Hieb, diesmal richtig ernsthaft.

"Ja!!", stiess ich hervor.

"Das finde ich aber auch!"

Erneut klatschte seine Hand auf meinen Hintern. Ich bewegte meinen Unterkoerper und fuehlte dabei die Erregung des Mannes. Er stoehnte leise auf. Sein Glied unter dem Hosenstoff war hart. Dann begann er im Rhythmus der Schlaege zu sprechen: "Du ... wirst ... es ... dir ... in ... Zukunft ... sehr ... gut ... ueberlegen ... meine ... Armbanduhr ... zu ... klauen!"

Ich kaempfte darum, die Traenen zurueckzuhalten, und verlor.

"Das ... hier ... wirst ... du ... dir ... wohl ... merken ... du ... Rotzloeffel!"

Ich rutschte hin und her und wurde bald zu einem Teil seiner Lust. Sein Atem ging nun immer schneller, und ploetzlich gab er ein Geraeusch von sich, das ich noch nie gehoert hatte. Es war wie eine Art von Jaulen. Dann hoerten die Schlaege auf. Der Oberkoerper des Mannes schien auf dem Bett nach hinten zu sinken. Ich liess mich zur Seite rollen und fiel auf den Boden. Noch im Liegen zog ich meine Hose hinauf und knoepfte sie schnell wieder zu. Dann erhob ich mich und wollte aus dem Zimmer rennen. Nur weg, nur weg.

"He, was ist mit deinem Geld?", rief der Mann, und ich blieb tatsaechlich stehen. Er nestelte die Brieftasche aus seiner rechten hinteren Hosentasche hervor, entnahm ihr einen grossen blauen Schein und hielt ihn mir vom Bett aus hin. Ich schnappte nach dem Geld, steckte es weg, rannte hinaus auf den Flur, lehnte mich fuer ein paar Augenblicke wie ausser Atem gegen eine Wand und holte dann den Fahrstuhl heran, der mich ins Foyer hinunterbrachte. Der Portier bemerkte, dass ich derangiert war, und fragte nach dem Grund. Inzwischen hatte ich mich wieder leicht gefangen und murmelte etwas von "im fuenften Stock ausgerutscht und hingefallen".

"Kleiner Meister Ungeschick", frotzelte er mich und lachte gutmuetig.

Am selben Abend reiste der Mann, dessen Namen ich bis heute nicht vergessen habe, ab. Man sagte mir, dass er mein aufmerksames und wohlerzogenes Verhalten ausdruecklich lobend erwaehnt habe.

Etwa ein Jahr spaeter wurde in der UFA-Wochenschau ueber eine wichtige Sitzung des Bundestages berichtet. Als die Kamera ins Plenum schwenkte, erkannte ich in der zweiten Reihe jenen Mann, dem ich nicht nur einen Hinternvoll, sondern auch ein neues Fahrrad zu verdanken hatte. Er schien sogar den selben Anzug zu tragen wie damals im Hotel 'Zur Boerse'. Aber voellig sicher war ich mir da nicht.


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