Gunnar Lewandowski war ein ganz normaler Junge, den nicht allzu viel erschuettern konnte, es sei denn, dass eine Klassenarbeit in Mathematik oder ein Termin beim Zahnarzt anstanden. Beides kam nicht besonders haeufig vor. Eine wirklich unangenehme Sache wartete allerdings seit vielen Jahren Tag fuer Tag auf den Elfjaehrigen. Und allein schon das Wort, das sich damit verband, schuettelte ihn regelrecht durch vor Grausen: Lebertran.
Seit seinem vierten oder fuenften Lebensjahr hatte Gunnars Mutter darauf bestanden, dass er den Tran, aus einer braunen Flasche auf einen grossen Essloeffel gefuellt, immer vor dem Mittagessen einnahm. Lebertran sollte seiner Gesundheit dienen, loeste aber in Wirklichkeit ein Unwohlsein in ihm aus, das manchmal sogar zu akutem Brechreiz fuehren konnte. Von Anfang an hatte er sich gegen die Einnahme gewehrt, doch der Erfolg war gleich Null gewesen. Frau Lewandowski hatte so ihre erzieherischen Mittel, um sicher zu stellen, dass Gunnar seinen auch Lebertran einnahm.
Im Bertelsmann Volkslexikon, Ausgabe Maerz 1960, dunkelroter Einband, sehr dick und fast 1900 Seiten schwer, wurde er unter dem Oberbegriff ‚Leber wie folgt beschrieben:
„L. tran (lat. Oleum jecoris aselli), das aus der frischen L. verschiedener Dorscharten gepresste Öl; enthaelt neben Ölen in grosser Menge Vitamin A u. D sowie Jod. Innerlich bes. zur Verhuetung u. Heilung von Rachitis, aeusserlich als Wundsalbe verwendet."
Dies hatte Gunnar schon so haeufig nachgelesen, dass er es auswendig hersagen konnte. Gott sei Dank benutzte seine Mutter den Lebertran nicht auch noch dafuer, ihm damit das Knie einzureiben, wenn er es sich mal wieder irgendwo aufgeschlagen hatte! Aber einnehmen musste er das zaehfluessige, schleimige, widerlich schmeckende Zeug halt trotzdem, und das jeden Tag.
Weil Gunnar ein heller Junge war, hatte er aber vor etwa einem Jahr einen Trick gefunden, mit dem es ihm gelegentlich gelang, dass er es nicht auch noch herunterschlucken musste, was ihm ganz besonders schwer fiel.
Das Ritual lief immer auf die gleiche Weise ab: Frau Lewandowski betrat mit der braunen Flasche und dem Loeffel das Wohnzimmer. Gunnar sass mit ungluecklichem Gesichtsausdruck da und beobachtete, wie seine Mutter die Flasche vor ihm auf den Tisch stellte, den Drehverschluss oeffnete und vorsichtig ein wenig von dem dickfluessigen Tran auf den Loeffel kippte. Dann bekam Gunnar den gefuellten Loeffel in den Mund geschoben. Oft achtete die Mutter darauf, dass er dann auch artig herunterschluckte. Doch wenn er Glueck hatte, kuemmerte sie sich danach nicht mehr um ihn, sondern drehte die Flasche gleich wieder zu und trug sie zurueck in die Kueche. Diese Gelegenheit nutzte Gunnar, um aufzustehen, den Ekel erregenden Mundinhalt in den grossen Topf eines Gummibaumes zu spucken und sich ganz schnell wieder hinzusetzen. Wenn seine Mutter dann in die Stube zurueckkehrte, war laengst alles erledigt. Das klappte natuerlich nur dann, wenn ihn sein Vater dabei nicht im Auge hatte, doch wegen dessen Frueh- oder Spaetschichten in der Autofabrik kam es haeufig vor, dass Herr Lewandowski nicht zu Hause war, wenn sein Sohn aus der Schule kam.
So hatte Gunnar sich auf diese Weise bestimmt schon siebzig oder achtzig Mal der schrecklichen Fluessigkeit aus seinem Mund entledigen koennen. Es war auch immer alles gutgegangen, und selbst der olle Gummibaum hatte unter den Lebertranattacken erstaunlicherweise nicht gelitten. An diesem sonnigen Fruehherbsttag aber wendete sich Gunnars Schicksal ganz unerwartet zum Boesen.
Zunaechst lief alles wie immer. Frau Lewandowski erschien mit der braunen Flasche, oeffnete sie, fuellte den Loeffel und steckte ihn Gunnar in den Mund. Gunnar bemerkte, dass seine Mutter nicht weiter auf ihn achtete. Das war in letzter Zeit immer haeufiger vorgekommen. Sie schien ein wenig nachlaessiger zu werden, wie er zu seiner grossen Freude beobachtete. Als sie den Raum mit Flasche und Loeffel verlassen hatte, stand er auf, begab sich zu dem hinter ihm stehenden Gummibaum und spuckte den Mundinhalt auf die ungewoehnlich trockene Pflanzenerde. Genau in diesem Augenblick geschah es:
„Ja, sag einmal, was machst du denn da?!?", hoerte er die Stimme seiner Mutter rufen.
Gunnar schrak heftigst zusammen. Nun war alles vorbei! Erwischt, ertappt, erledigt. Sein Magen zog sich zusammen, und die Roete schoss ihm in die Wangen. Er drehte sich um. Da stand Frau Lewandowski in der geoeffneten Stubentuer, in der Hand diesmal keine braune Flasche, sondern jenen dunklen, schweren, hoelzernen Kochloeffel, den Gunnar sehr gut kannte.
„Aber Mutti ...", stiess er entsetzt und tonlos hervor.
„Aber Mutti, was ?!?"
„Ich ..."
Eigentlich gab es nichts zu sagen, dafuer war der Fall zu offenkundig. Gunnar verstummte daher und blieb wie angewurzelt bei dem Gummibaum stehen. Dafuer kam nun seine Mutter auf ihn zu. Als sie ihn erreicht hatte, wich Gunnar zurueck. Frau Lewandowski blickte in den Blumentopf. Die dunklen Spuren des frischen Lebertrans auf der trockenen Erde waren mehr als deutlich zu erkennen.
„Sag mal, Freundchen, haeltst du deine Mutter eigentlich fuer doof?"
Auf diese rhetorische Frage verbot sich jede Antwort.
„Hast du wirklich geglaubt, ich wuerde dir nicht auf die Schliche kommen?"
Noch so eine scheussliche Frage. Natuerlich hatte er das in seiner jungenhaften Naivitaet geglaubt, zumindest aber stark gehofft. Aber eigentlich haette er es besser wissen muessen, denn vor seiner Mutter konnte er nichts wirklich verbergen. Die kriegte alles raus, frueher oder spaeter.
„Wie lange geht das schon so?"
Was sollte er denn darauf nun wieder antworten? Nun hielt sie aber ihn fuer doof!
„Das war das erste Mal," wisperte er eingeschuechtert.
Ganz grosser Fehler!
„Das erste Mal, ach wirklich? Na, dann wird ich deinem Gedaechtnis mal auf die Spruenge helfen. Ab in die Kueche mit dir!"
„Nein, bitte nicht, Mutti!"
KLATSCH!
Ein sengender Hieb mit dem Kochloeffel auf seinen nackten rechten Oberschenkel.
„Auuuaaaa!!"
KLATSCH! Der naechste Einschlag.
„Auuuuu!!"
Schon schossen ihm Traenen in die Augen. Verzweifelt bemuehte er sich, aus der Reichweite des muetterlichen Armes zu gelangen und machte sich eiligst auf den Weg in die Kueche, obwohl er wusste, was dort gleich geschehen wuerde, denn das war bei Lewandowski der Ort, an dem er gewoehnlich einen muetterlichen Hinternvoll bezog.
KLATSCH!
„Auuuuuuu!"
Seine Mutter war schon hinter ihm. Diesmal hatte es die hintere Partie des linken Oberschenkels, dicht unter dem Hosensaum, erwischt.
In der Kueche angekommen, ging alles ganz schnell: Gunnar musste wie immer ueber den stabilen, grossen Tisch, und nun sauste der Kochloeffel gezielt auf seine Hinterbacken nieder.
KLATSCH! KLATSCH! KLATSCH! KLATSCH! KLATSCH! KLATSCH!
„Ich werde dir helfen, deine Mutter zu beluegen und betruegen!"
Die duenne graue Sommerhose hielt fast nichts von der Wucht der Hiebe ab. Schon brannte Gunnars Sitzflaeche wie verrueckt.
KLATSCH! KLATSCH! KLATSCH! KLATSCH! KLATSCH! KLATSCH!
„Au, au, au, Mama, auuuuaaaaaa, Maaamaaaaa!!"
Er flennte, er heulte, er bettelte, er versprach sofortige Besserung bis an sein Lebensende und weit darueber hinaus, doch das nuetzte ihm ueberhaupt nichts. Wenn Frau Lewandowski erst mal in Schwung gekommen war, dann liess sie nicht so schnell wieder locker. Da war richtig Musik drin - diese unangenehme Erfahrung hatte Gunnar leider schon des oefteren machen muessen.
„Wenn du glaubst, mein lieber Freund, dass du schlauer bist, als deine Mutter, dann hast du dich aber getaeuscht!"
Aber das glaubte er doch schon laengst nicht mehr!
KLATSCH! KLATSCH! KLATSCH! KLATSCH! KLATSCH! KLATSCH!
Immer wieder bekamen auch die ungeschuetzten Oberschenkel ihren Teil ab. Das tat dann ganz besonders weh. Und erst die blauen Flecke hinterher, die jeder sehen konnte!
„Mamaaaaaaaaa!!!"
„Ich wird dir was mit Mama!"
KLATSCH! KLATSCH! KLATSCH! KLATSCH! KLATSCH! KLATSCH!
Gunnar versuchte, sich irgendwie von der Tischflaeche, ueber der er baeuchlings lag, herunterzuwinden, aber seine Mutter wusste das souveraen zu verhindern. Ungeruehrt verrichtete der Kochloeffel auch weiterhin sein schmerzhaftes Werk auf dem stramm gezogenen Hosenboden.
Als es endlich vorbei war, liess Gunnar sich auf den Stragula-Fussboden fallen und heulte sich in Embryohaltung noch mal so richtig aus. Doch nach nicht einmal zwei Minuten hoerte er schon wieder die Stimme seiner Mutter:
„So, nun steh mal auf!"
Mit Muehe erhob er sich und rieb sich mit beiden Haenden ueber die roten, traenenverschmierten Augen. Als er wieder einigermassen gucken konnte, sah er, wie seine Mutter ihm einen Essloeffel entgegenhielt.
„Lebertran-Zeit!"
„Aber Mutti ...!"
Ihr Blick liess ihn sofort verstummen, und gehorsam schluckte er das Zeug hinunter, um sich danach zu schuetteln wie ein nasser Hund. Frau Lewandowski musste unwillkuerlich lachen.
„Ist es denn wirklich so furchtbar schrecklich?", fragte sie ihren Sohn mit ueberraschend sanfter Stimme, so kurz nach einem Hinternvoll.
„Jaa!", stiess er hervor und guckte sie dabei dermassen Mitleid erregend an, dass er jeden Fabrikbesitzer sofort dazu gebracht haette, seinen Betrieb zu verkaufen und den gesamten Erloes an Obdachlose zu verschenken.
„Na, ich werde mal mit dem Vati sprechen, ob wir nicht doch mal Sanostol fuer dich kaufen koennen. Auch wenns teurer ist."
„O, Klasse! Danke, Mutti!", jubelte Gunnar lauthals und fiel ihr um den Hals. Aber schon verduesterte sich sein huebsches Gesicht wieder.
„Du, Mutti?", sagte er ganz vorsichtig.
„Na, was ist denn noch, mein Purzel?"
„Ähm ..."
„Nun sag schon."
„Musst du Vati erzaehlen, was passiert ist?"
„Ja, das werd ich wohl. Oder meinst du, ich verschweige ihm, dass ich dir heute den Hintern voll hauen musste? Bei uns wird nichts verheimlicht, das weisst du doch."
„Aber ..."
„Aber?"
„Aber ich krieg dann von ihm doch nicht noch mal welche, oder?"
„Das kann ich dir nicht versprechen, mein Sohn."
Gunnar spuerte, wie die Traenen wieder hochkamen. Sein Hintern und die Beine brannten von den Schlaegen. Und ein Arschvoll von seinem Vater war doch noch etwas ganz anderes, als das, was er gerade erlebt hatte. Es passierte zwar recht selten, war dann aber um so eindrucksvoller. Und die Hosen kamen dabei auch herunter.
Ein Schaudern durchlief seinen schlanken, sportlichen Koerper. Er klammerte sich an seiner Mutter fest.
„Na, na, mein Purzel! Ich werde mal sehen, was ich tun kann, wenn der Vati von der Schicht kommt. Vielleicht hat er ja gute Laune. Und jetzt wird endlich gegessen!"
Als Gunnar sich auf seine versohlten vier Buchstaben setzte, stoehnte er leise auf, obwohl das Polster der Wohnzimmerstuehle angenehm weich war. Seine Mutter tat ihm eine Roulade auf seinen Teller, und sie assen schweigend. Die Uhr zeigte halb zwei. Der Nachgeschmack des Lebertrans in Gunnars Mund vermischte sich mit der Vorahnung, dass sein Vater nachher keine gute Laune haben wuerde, denn die hatte er eigentlich fast nie, wenn er von der Arbeit kam. Ach, wenn doch nur schon alles vorbei gewesen waere!